1968 war nicht nur der Hippie-Traum am Ende - auch die Beatles hatten sich voneinander entfremdet. Mit dem "Weißen Album" hinterließ die zerrissene Band einen Pop-Urknall, der bis heute ausstrahlt.
ZitatAlles anzeigenAls sich die Beatles erstmals trennen, am 22. August 1968, nimmt die Welt davon keinerlei Notiz. Zunächst bemerken nicht einmal die verbliebenen Beatles selbst, dass ihr Drummer verschwunden ist. Er fühlt sich nicht mehr gebraucht.
Während Ringo Starr auf der Jacht des Schauspielers Peter Sellers durch die Ägäis schippert, setzt sich Paul McCartney in den Abbey Road Studios für "Dear Prudence" und "Back in the USSR" selbst hinter das Schlagzeug. Erst nach zwei Wochen und mehreren Telegrammen gelingt es, den entfremdeten Starr zur Rückkehr nach London zu bewegen. Dort findet er sein Instrument mit Blumen dekoriert: "Willkommen zuhause!"
Mit freundlichen Gesten allein aber lassen sich die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Gruppe nicht mehr bändigen. Aus den ehemals knuddeligen "Pilzköpfen" sind eigenwillige Künstler geworden. Im Jahr zuvor hat ihr legendärer Manager Brian Epstein eine Überdosis Schlaftabletten genommen und ein vaterfigurförmiges Loch hinterlassen. Der eigene Mischkonzern Apple Corp. Ltd., noch auf Veranlassung von Epstein gegründet, macht mehr Arbeit als Umsatz. Und John Lennon wird es bald nur noch im Doppelpack mit seiner neuen Freundin geben, der japanischen Künstlerin Yoko Ono.
Verweht ist überdies der psychedelische Optimismus des "Sommers der Liebe", zu dem die Beatles mit "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" einen Soundtrack geliefert hatten. Richard Nixon wird als Präsident der USA vereidigt. In Vietnam sterben die Leute unter Bombenteppichen, in Biafra an Hunger. Auf den Barrikaden von Paris und Berlin rufen Studenten zur Revolution. Es fallen tödliche Schüsse auf Martin Luther King, Robert Kennedy, Rudi Dutschke. In Prag rollen sowjetische Panzer.
Wären die Beatles wirklich die wichtigste Band der Welt, müssten sie auf diese Welt reagieren. Stattdessen unternimmt die Gruppe den wohl berühmtesten Betriebsausflug der Popgeschichte. Im indischen Ashram des Maharishi Mahesh Yogi lassen sich die Musiker in die Mysterien der Transzendentalen Meditation einweihen. Und schreiben, um sich die Langeweile zu vertreiben, genug Songs für ein weiteres Album. Vielleicht sogar zwei.
Ihre eigene Zerrissenheit und die Zerrissenheit der Welt ist es, die "The Beatles", das sogenannte White Album, zu einem Wiegendruck der Postmoderne macht, einer historischen Setzung. Bei der Arbeit im Studio zerfällt das Molekül der Gruppe in einzelne Atome und setzt gerade im Zerfall eine Strahlung frei, die noch heute spürbar ist. Mindestens elf unterschiedliche Genres stehen hier gleichberechtigt nebeneinander, von Ragtime ("Honey Pie") und Reggae ("Ob-la-di, Ob-la-da") über Psychedelia ("Glass Onion") und Blues ("Why Don't We Do It In The Road") bis zu Folk ("Blackbird") und Country ("Rocky Racoon").
Irritierend wie ein schwarzes Loch
Im Kosmos dieser Platte sind alle Planeten der populären Musik versammelt, von den ganz alten Brocken des Rock'n'Roll ("Birthday") bis zu noch unerforschten Trabanten. "Happiness Is A Warm Gun" ist eine Blaupause für progressiven Rock, "Helter Skelter" präfiguriert den Heavy Metal. Seiner Zeit um Jahrzehnte voraus ist das von Karlheinz Stockhausen inspirierte "Revolution 9". Den Hörern damals erschien die Collage irritierend. Heute wirken die Feedbacks, Schreie, Seufzer, Loops und auf den Kopf gestellten Klassiksequenzen wie ein klangliches Kondensat des Jahres, in dem sie arrangiert wurden. "Revolution 9" klingt nicht nach 1968. Es ist 1968.
Das macht auch den Wert der opulenten Box (3 oder 7 CDs/4 LPs) aus, mit der die Plattenfirma dieser Tage den Umstand feiert, dass dieser Urknall sich vor genau 50 Jahren ereignet hat. Wie auf einer Explosionszeichnung lassen sich hier alle Schrauben und Federn des Gesamtkunstwerkes besichtigen - von frühen Versionen über Irrläufer und Gefrotzel während der Proben bis zu Experimenten wie einer zwölf Minuten vor sich hinschlurfenden Version von "Helter Skelter". Es ist ein vorbildlich archäologischer Zugriff, der das Vergangene ehrt, indem er es in Formaldehyd einlegt.
Ein anderer Zugang ist es, die Vergangenheit auch sinnlich erlebbar zu machen. Inzwischen hat sich um Gruppen wie Led Zeppelin, Pink Floyd oder Genesis eine ganze Industrie aus Tribute-Bands entwickelt, die ihre Vorbilder wie Putzerfischchen begleiten und vom Reenactment legendärer Musik leben. Bei den Beatles stellt sich das Problem, dass sie ab 1966 nicht mehr aufgetreten sind, ihre wirklich großen und entsprechend komplexen Alben also nie zur Aufführung brachten.
Wovor selbst die Beatles kapitulierten, das nehmen The Analogues in Angriff. Das niederländische Quintett hat es sich zur Aufgabe gemacht, "unspielbare" Platten der Beatles in voller Länge zu spielen. Ohne Pilzkopfperücken und sonstige Anverwandlungen, aber auf zeitgenössischen Instrumenten - vom abseitigsten Spielzeug aus den Abbey Road Studios über Klassiker wie das Mellotron bis zu einer Replika der Les-Paul-Gitarre, auf der Eric Clapton das Solo zu "While My Guitar Gently Weeps" beisteuerte. Im Konzert machen sie mit ihrer liebevollen Akribie die Beatles nicht nur erlebbar, sondern lebendig.
Kreative Energie und detektivischer Spürsinn
Das "Weiße Album", sagt Bassist Bart van Poppel, war ihre bisher größte Herausforderung. Wie präpariert man ein präpariertes Klavier genau so, wie Paul McCartney es präparierte? Wo findet man eine Kuhglocke, die in exakt der geforderten Höhe tönt? Und wer repariert eine elektromechanische Orgel, wenn es dafür keine Elektromechaniker mehr gibt?
Ein Meisterstück ihrer aktuellen Tournee ist ausgerechnet "Revolution 9", ein Stück, das die Beatles nicht einmal im Studio jemals gespielt haben. Die Bühne gehört einem alten Tonbandgerät, die Leinwand dahinter einer Collage, die es in Tiefe und Anspruch mit der Musik aufnehmen kann. The Analogues legen nicht nur kreative Energie und detektivischen Spürsinn an den Tag. Sie lassen sich ihre Spektakel auch etwas kosten.
Bezahlt wird das Vergnügen von Fred Gehring, 64. Der ehemalige Geschäftsführer von Tommy Hilfiger könnte seinen Ruhestand auch auf einer Jacht in der Ägäis verbringen. Stattdessen finanziert er aus seinem Vermögen die Wiederauferstehung der Beatles - und gönnt sich das Vergnügen, als Ringo hinter dem Schlagzeug zu sitzen.
Der echte Ringo Starr hat sein persönliches "Weißes Album" bereits 2015 versteigern lassen. Vor der Auktion wurde das Exemplar mit der Seriennummer "0000001" auf maximal 60.000 Dollar geschätzt. Verkauft wurde es für 790.000.